Traumapädagogische Familienhilfe

Abstract

Traumatisierte Kinder und Jugendliche verfügen über verschiedene Möglichkeiten, ihre traumatischen Erfahrungen zu bewältigen. Insbesondere bei wiederholt und komplex traumatisierten Kindern lässt sich eine chronische Übererregung und Wachsamkeit (hyperarousal) beobachten. Ihr Stressniveau ist dauerhaft erhöht, wodurch ein entspanntes Spiel z.B. nicht möglich ist. Dadurch sind ihre Fähigkeiten zur Selbstregulation sehr schnell erschöpft. Geraten sie dann in eine Überforderungssituation, welche sehr schnell auftreten, folgt häufig die Dissoziation: die Kinder und Jugendlichen sind dann wie betäubt, spüren sich selbst kaum, können ihre Emotionen nicht benennen und ihr Verhalten nicht begründen (Schmid, 2016). Für Systeme, in denen solche Kinder ihren Lebensmittelpunkt haben, ist dies eine große pädagogische Herausforderung. In stationären Settings, in denen erfahrenes und ausgebildetes Fachpersonal als Bezugsperson fungiert, ist dies leichter zu bewältigen, insbesondere wenn traumapädagogische Konzepte implementiert sind, als in Familien, in denen dieses pädagogische Wissen nicht vorhanden ist. Die Traumapädagogische Familienhilfe zielt darauf ab, Familien, in denen traumatisierte Kinder und Jugendliche leben, traumapädagogische Kompetenzen zu vermitteln, um Verständnis zu schaffen, die Feinfühlungs- und Erziehungsfähigkeiten zu verbessern und adäquate Handlungsideen zu entwickeln, damit sie den Alltag besser meistern können.

Finanzielle und rechtliche Grundlagen

Die Hilfe ist vergleichbar mit den Aufgaben einer spezialisierten Sozialpädagogischen Familienhilfe und wird nach § 27 Abs. 2 oder § 31 SGB VIII finanziert. Der Träger empfiehlt einen Co-Einsatz zweier Fachkräfte, um vom Vier-Augen-Prinzip zu profitieren und Kontinuität auch bei Abwesenheit eines Kollegen zu gewähren. Das Stundenkontingent und die Dauer wird grundsätzlich fallbezogen besprochen. Aus pädagogischer Sicht empfiehlt quergedacht, einen Zeitrahmen von zunächst sechs Monaten als Richtwert festzulegen.

Zielgruppen

quergedacht empfiehlt die Traumapädagogische Familienhilfe insbesondere für Familiensysteme (auch Pflegefamilien und Netzwerk- oder Verwandtschaftspflege), in denen ein Kind oder Jugendlicher Anzeichen von Traumafolgestörungen zeigt, beziehungsweise dementsprechend diagnostiziert wurde, welche zu Verhaltens- und Erziehungsproblemen und einem damit verbundenen erhöhten pädagogischen Bedarf geführt haben. Sinnvoll kann die Hilfe auch als Anschlussmaßnahme an ein Trauma-Clearing sein, welches eine weitere traumapädagogische ambulante Maßnahme als angezeigt empfohlen hat.

Ziele

Die Maßnahme hat zum Ziel, die Familie dafür zu sensibilisieren, wie Erfahrungen von Ohnmacht und Hilflosigkeit korrigiert werden können und Selbstwert sowie Selbstwirksamkeit beim Kind gefördert werden können. Damit dies möglich ist, müssen die Kinder und Jugendlichen neue, positive Erfahrungen mit anderen Menschen, mit ihrer Umwelt und mit sich selbst machen können. Bei einer Fremdplatzierung des Kindes/Jugendlichen kann mit dieser Maßnahme an einer gezielten Rückführung oder Umgangsgestaltung mit den Eltern gearbeitet werden.

Hilfe-/Auftragsplanung

Erfolgt eine Beauftragung durch das Jugendamt, wird zum Fallbeginn ein Start-HPG geplant. In diesem Rahmen lernen sich das Kind/der Jugendliche, die Erziehungspersonen und die Fachkräfte kennen, der Auftrag wird formuliert und der Leistungsumfang bestimmt. Empfohlen wird ein Stundenkontingent von 30 bis 40 Stunden monatlich für drei Berater, über den genauen Umfang entscheidet das Jugendamt in Rücksprache mit dem Träger. Die Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen erfordert Zeit und Geduld. Der anfängliche Aufbau einer Arbeitsbeziehung braucht mehr Zeit und darum empfiehlt quergedacht eine längere Anfangsphase von etwa zwei Monaten, in denen noch weniger an den Zielen gearbeitet als vielmehr Vertrauen aufgebaut wird. Nach sechs Monaten fassen die Fachkräfte den Hilfeverlauf und die Zielerfüllung in einem Bericht zusammen und teilen dem Jugendamt eine Empfehlung für den weiteren Hilfeverlauf mit. In Bezug auf die Hilfeplanung und die Zielerreichung wird höchstmöglicher Wert auf Klarheit und Transparenz gelegt. Dies ist elementar, um das Gefühl von Unsicherheit und Überforderung bei den Kindern und Jugendlichen abzuwenden. Die Arbeit erfolgt kleinschrittig und sehr unterstützend. Bei Betroffenen, die schnell überfordert sind, wird z.B. das HPG so vorbereitet, dass ihre Sicht der Dinge gehört wird. Dies kann über Videoaufnahmen oder Briefe erfolgen und ist auch auf andere Situationen übertragbar. Partizipation ist ein hohes Gut und im traumapädagogischen Kontext besonders wichtig.

Angebotsstruktur

Anfänglich ist es notwendig, mit dem Kind/Jugendlichen eine verlässliche und sichere Bindung auf zu bauen. Kontinuierliche und regelmäßige Termine, keine Beraterwechsel, transparente Kommunikation und Kohärenz sind wichtige Faktoren in dieser Anfangsphase und brauchen Zeit und Geduld. Sofern dies noch nicht in einem vorangegangenen Clearing erfolgt ist, findet zunächst eine Assessment-Phase statt. In dieser werden Resilienzfaktoren beim Kind selbst, in seinem familiären oder weiteren sozialen Umfeld von den Beratern analysiert und für defizitäre Resilienzfaktoren Ziele zur Stärkung formuliert. Risiko- und Schutzfaktoren werden innerhalb des Familiensystems und in der Umgebung (Schule, Kita etc.) ermittelt. In der eigentlichen traumapädagogischen Beratung wird traumatisierten Kindern/Jugendlichen und ihren Familien Psychoedukation angeboten, um körperliche und psychische Prozesse eines Traumas zu verstehen. Unsere Berater werden die Familien immer wieder im Beratungsprozess dahingehend „schulen“. Kinder/Jugendliche mit traumatischen Erlebnissen haben im Alltag oft eine chronische Grundanspannung und sind ständig auf der Hut. Entspannungsübungen und Achtsamkeitstraining sind Teil der Beratung. quergedacht wird die Kinder und Jugendlichen dabei unterstützen, ihre Sinnes- und Körperwahrnehmungen, sowie auch die daraus entstehenden Gefühle und Gedanken wieder bewusster wahrzunehmen und ihnen Beachtung zu schenken. (Die Aktivierung der regelmäßigen Sinneswahrnehmung im Alltag kann die Dissoziationsneigung bereits markant reduzieren.)

Die Resilienzförderung wird unterstützt, indem mit oder für das Kind (je nach Entwicklungsstand) positiv besetzte Aktivitäten gesucht werden. Auch erlebnispädagogische Maßnahmen sind hier denkbar. Die Frage „Welche Erfahrungen braucht das Kind?“ (z.B. bezüglich Mut, Selbstwirksamkeit…) ist hier zentral – dies wird mit schönen Aktivitäten verbunden, welche gezielt nach dem individuellen Bedarf des Kindes ausgesucht werden. Beim Umgang mit den eigenen Gefühlen wird oft Hilfe benötigt. Traumatisierte Kinder und Jugendliche haben zum einen oft Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren, erleben diese als außergewöhnlich intensiv und fühlen sich ihnen ausgeliefert und zum anderen haben sie häufig Schwierigkeiten, Emotionen zuzulassen. Sie vermeiden viele Situationen, in denen intensive Emotionen ausgelöst werden können. Der Umgang mit den eigenen Gefühlen im Alltag kann gefördert werden, indem die Berater durch ihr Verhalten die Emotionen der Kinder wertschätzen und Hilfestellungen für die Regulation anbieten.

Im gesamten Prozess werden die Eltern und Geschwister miteinbezogen. Wenn im Familiensystem organisierte Bindungen vorhanden sind, lernt das System welche Verhaltens - und Sichtweisen für das Kind/den Jugendlichen förderlich sind. Außerdem legen die Berater großen Wert darauf, dass die Familienmitglieder ihre oft verlorene Selbstfürsorge wieder aktiv gestalten, um Sekundärtraumatisierungen zu vermeiden. Eine wertschätzende Haltung der Berater gegenüber den (biologischen) Eltern ist erforderlich, da die Thematik der Schuld von Misshandlung und Vernachlässigung durch die Eltern immer im Raum steht, was die Beziehungsgestaltung zu den Eltern erschweren kann. Das Kind/der Jugendliche trägt nunmehr deren Gene und wird Ähnlichkeiten zu ihnen aufweisen, die es integrieren und wertschätzen muss, um sich selbst akzeptieren zu können. Für die Berater selbst ist dies oft eine große Herausforderung und wird bei Bedarf inter-/supervisorisch begleitet. Denn hin zu dieser Grundhaltung sollen (Pflege-)Eltern unterstützt werden. Die traumapädagogische Elternarbeit und das Konzept des „sicheren Ortes“ ist nicht nur für die betroffenen Kinder und Jugendlichen immens wichtig. Für die (misshandelnden und verwahrlosenden) Eltern stellt sie eine erhebliche Herausforderung dar. Denn es bedeutet, dass man sich der Tatsache stellen muss, dass man als Eltern den „sicheren Ort“ nicht immer garantieren konnte, und dass man als Eltern bereit ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Damit Eltern einen solchen Prozess durchlaufen können, brauchen sie selbst einen sicheren Ort und eine Beziehung zu einem Berater, der sie nicht verurteilt und dem sie vertrauen. Kooperieren Eltern bei diesem Prozess, besteht eine reale Chance auf eine Neudefinition der Eltern-Kind-Beziehung.

Die Berater bieten zu guter Letzt natürlich auch Unterstützung bei therapeutischer Anbindung sowie juristischen Schritten an.

Literatur

Schmid, M. (2016). Grundlagen und Haltung der Traumapädagogik. Ulm: KJPP, Universitätsklinikum Ulm.

Stand: 01.01.2021

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