Trauma-Clearing

Abstract

Im Laufe eines Lebens werden ca. 50 bis 60% aller Menschen eine „traumatische“ Erfahrung machen, die also hochgradig belastend ist und potentiell die Entwicklung einer Traumafolgestörung nach sich ziehen kann. Es wird geschätzt, dass circa 20% aller Jugendlichen in Deutschland bereits ein solches Ereignis durchlebt hat (Bremer Jugendstudie; Essau, Conradt, & Petermann, 2006) und ein somit signifikanter Anteil der Traumatisierungen bereits vor dem Erwachsenenalter erfolgt. 80% der traumatischen Erlebnisse geschehen innerhalb der Familie (Pillhofer et al., 2011; Euser et al., 2013). Traumata werden in unterschiedliche Kategorien je nach Art und Häufigkeit eingeteilt, und ein bereits erlebtes Trauma erhöht die Wahrscheinlichkeit, weitere Traumata zu erleben. Vor allem Vernachlässigungs-, Misshandlungs- und Missbrauchserfahrung, insbesondere in der frühen Kindheit und durch enge Bezugspersonen, beeinträchtigen die Entwicklung von vertrauensvollen und sicheren Bindungen auf gravierende Weise und bieten so Nährboden für mögliche Folgetraumata. Erlebt ein Kind oder Jugendlicher ein traumatisches Erlebnis und die Familie wird dem Jugendamt so bekannt oder wendet sich selber hilfesuchend dorthin, ist es geboten, dem Familiensystem möglichst unverzüglich eine passgenaue Hilfe anzubieten. Es handelt sich um eine hochbelastende Situation, welche die Familien vor eine Zerreißprobe stellen und das Kindeswohl gefährden kann. Aufgrund der Emotionalität und Komplexität einer solchen Situation sind die Ansprüche an eine Hilfsmaßnahme jedoch hoch, sodass es sinnvoll ist, zunächst eine Bedarfsanalyse durchzuführen, um eine geeignete Hilfe mit adäquaten Zielen zu entwickeln.

Das Angebot des quergedacht-Trauma-Clearings ist eine spezielle traumasensible Clearingmaßnahme mit zusätzlichen Elementen eines Erziehungsbeistandschaft und einer Elternberatung, um emotionale Nöte während der Bedarfsanalyse angemessen abfangen zu können. Das Alleinstellungsmerkmal dieser Maßnahme ist das bewusste Schaffen einer Schnittstelle zwischen einem Clearing zur reinen Bedarfsabklärung und einer intensiven Familienhilfe, welche im Regelfall nicht vermischt werden, aber in dem besonderen Fall eines traumatischen Events angezeigt ist. Die Fachkräfte verwenden psychotraumatologisches Wissen, um zu einer Einschätzung bezüglich der Risiken potentieller Traumafolgestörungen zu gelangen, Resilienzen und Ressourcen herauszuarbeiten, und die emotionalen Bedürfnisse der Beteiligten festzustellen, ohne sich aber an einer Aufarbeitung der Thematik zu versuchen. Traumapädagogische Ansätze werden konsequent und durchgängig in der Arbeit mit der Familie, aber auch innerhalb des quergedacht-Teams eingesetzt, um die Sensibilität für die belastende Situation zu gewährleisten. Auch die Frage nach möglichen Kindeswohlgefährdungen wird bei dem Trauma-Clearing berücksichtigt.

Finanzielle und rechtliche Grundlagen

Die Hilfe wird nach § 27 Abs. 2 SGB VIII finanziert. Aufgrund der komplexen Fragestellung und der Vielzahl an verfolgten Zielen schlägt quergedacht für die Umsetzung 160 Fachleistungsstunden für einen Zeitraum von vier Monaten mit drei Beratern vor. Von Trägerseite werden hierfür nur erfahrene Fachkräfte mit traumapädagogischen Kenntnissen eingesetzt, von denen mindestens eine psychologisch oder psychotherapeutisch ausgebildet ist.

Zielgruppen

Das Angebot ist gedacht für alle Familien, in denen ein Kind oder mehrere Kinder massiv traumatischen Situationen ausgesetzt waren. Dies umfasst unter anderem starke Vernachlässigung, das Erleben von Missbrauch und Gewalt körperlicher, sexueller oder seelischer Art, das Beobachten von häuslicher Gewalt, aber auch die Beteiligung an schweren Unfällen, das Auftreten plötzlicher Todesfälle im engsten Umfeld oder abrupte Verluste von Kontaktpersonen. Auch der Einsatz in Familien, wo die Eltern oder Personensorgeberechtigten selber misshandelt oder vernachlässigt haben, ist unter entsprechender Anpassung des Hilfeplans denkbar.

Ziele

Das Clearing soll unter Einbeziehung des gesamten Familiensystems klären, welche weitere Unterstützung und Betreuung notwendig ist, damit die Familie dem Kind/den Kindern bei der Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses zur Seite stehen und als Gemeinschaft angemessene Strategien erlernen kann, mit den eigenen Gefühlen bezüglich der Gesamtsituation umzugehen. Es soll eruiert werden, für welches Familienmitglied welche Form der Unterstützung in Zukunft sinnvoll ist – ob eine Therapieanbindung, eine weitere (traumaorientierte) Jugendhilfemaßnahme, eine Betroffenengruppe, eine stationäre traumapädagogische Gruppe, oder etwas gänzlich anderes. Die Fachkräfte befassen sich auch mit der Frage, ob das Kindeswohl in der Familie unter den erschwerten Bedingungen weiterhin sichergestellt werden kann. Während der Clearingprozess läuft, bieten die Berater der Familie Entlastungsgespräche an und bemühen sich bei Bedarf um eine externe Anbindung des betroffenen Familienmitglieds, wenn sich herausstellen sollte, dass die Jugendhilfemaßnahme alleine nicht ausreichend ist. Die Berater nehmen die traumapädagogische Grundhaltung ein, welche bereits stabilisierend auf das Familiensystem wirken kann. All dies dient dazu, den Betroffenen möglichst viel Sicherheit zu schaffen, eine sekundäre Traumatisierung bei den Eltern und Geschwistern vorzubeugen und das Risiko für Störungen der Kinder (Anpassungsstörung, (komplexe) Traumafolgestörung, PTBS…) sowie für weitere Traumatasierungen zu mindern.

Hilfe-/Auftragsplanung

Aufgrund der hochkomplexen Gemengelage, von der in solchen Fällen, insbesondere bei (sexuellem) Missbrauch, auszugehen ist, ist seitens quergedacht ein fachlicher Austausch vorab dringend gewünscht. Im obligatorischen ersten Hilfeplangespräch wird der betroffenen Familie die Maßnahme erklärt und die Ziele benannt. Es wird explizit klargestellt, dass das Clearing nicht therapeutisch oder klinisch-diagnostisch arbeitet und sich nicht mit dem traumatischen Ereignis an sich auseinandersetzt, sondern zuallererst feststellen soll, was die Familie braucht, wo Schutzfaktoren und wo Risikofaktoren sind, wie Ressourcen und Resilienz aufgebaut werden sollen, ob und welche externen Anbindungen und Folgemaßnahmen notwendig sind, und ob das Kindeswohl gefährdet ist oder zukünftig sein könnte. Die ersten Termine mit der Familie dienen dem Aufbau der Arbeitsbeziehung. Eine vertrauensvolle Beziehung ist der Ausgangspunkt einer traumasensiblen Maßnahme, da bei traumatischen Erlebnissen und Traumatisierung der Kontrollverlust immens ist und als extrem belastend empfunden wird und vorhandenes Misstrauen daher auf jeden Fall abgebaut werden sollte. In der Folge finden die Termine mit der Familie statt, in der die für die Empfehlung notwendigen Informationen gesammelt werden. Aber auch Entlastungsgespräche werden angeboten. Nach vier Monaten verfassen die Berater einen Bericht, in der sie sich explizit zu denen mit dem Jugendamt abgesprochenen Fragen äußern. Dieser wird mit der Familie vorbesprochen und dann im gemeinsamen Auswertungsgespräch im Jugendamt weiter erörtert.

Angebotsstruktur

In der Anfangsphase werden die Fachkräfte sich der Familie erneut vorstellen, eventuell die Abläufe erklären und zunächst versuchen, eine Arbeitsbeziehung aufzubauen. Dies kann schätzungsweise einen Monat dauern. Im Anschluss werden die Berater mit der eigentlichen Clearing-Arbeit beginnen und hierfür verschiedene Methoden einsetzen, z.B.:

  • Genogramm
  • Soziale Netzwerkkarte
  • Traumabezogene Fragebögen, um Belastungen zu erfragen (z.B. IES-R, ETI-KJ)
  • Familiendiagnostische Fragebögen (SURT, EBF-KJ, FIT)
  • Interaktionsanalyse und augenscheinliche Bindungsdiagnostik
  • Umfelderkundung
  • Gespräche mit Institutionen
  • Analyse von Ressourcen und Resilienzfaktoren aller Beteiligten
  • Analyse von Risiko - und Schutzfaktoren

Parallel dazu führen die Berater nach Bedarf Entlastungsgespräche mit den Familienmitgliedern, wobei die Anzahl der Fachkräfte es ermöglicht, dem belasteten Kind/den belasteten Kindern auch einen individuellen Ansprechpartner zur Seite zu stellen. Wird dies als notwendig eingeschätzt, bemüht sich das quergedacht-Team um eine externe Anbindung, z.B. an einen Psychotherapeuten oder eine Betroffenengruppe. Bei misshandelnden und vernachlässigenden Eltern wird das Aufstellen eines Schutzplans erforderlich sein. Das Benennen von Konsequenzen bei Nichteinhalten eines aufgestellten Schutzplans ist für die Sicherstellung des Kindeswohls unabdingbar. Hier wird oft eine schnelle Veränderung des Verhaltens der Klientinnen und Klienten eingefordert und von den Fachkräften nachgehalten. Während der Maßnahme behalten die Fachkräfte stets die traumapädagogische Haltung bei. Sie tauschen sich regelmäßig untereinander und im Großteam aus und nehmen Supervision in Anspruch, um die Objektivität, den Traumafokus und auch das Kindeswohl im Blick zu behalten.

Literatur

  • Essau, C., Conradt, J., Petermann, F. (2006). Häufigkeit der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Jugendlichen: Ergebnisse der Bremer Jugendstudie. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 27, 37-45.
  • Euser, S., Alink, L., Tharner, A., van Ijzendoorn, M. & Bakermans-Kranenburg, M. (2013). The Prevalence of Child Sexual Abuse in Out-of-Home Care: A Comparison Between Abuse in Residential and in Foster Care. Child Maltreatment, 18, 221–231.
  • Pillhofer, M., Ziegenhain, U., Nandi, C., Fegert, J.M. & Goldbeck, L. (2011). Prävalenz von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in Deutschland. Annäherung an ein Dunkelfeld. Kindheit und Entwicklung, 20, 64-71.
  • Schmid, M. (2016). Grundlagen und Haltung der Traumapädagogik. Ulm: KJPP, Universitätsklinikum Ulm.

Stand: 01.01.2021

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